Die ÖHLA als Geburtshelfer der ersten deutschen Handelshochschule
stetige enge Zusammenarbeit von Schule und Hochschule
Im April 1897 übernahm Prof. Hermann Raydt das Direktorat der ÖHLA. Er war sehr vaterländisch eingestellt und bestrebt, die Schüler durch Turnen, Schulwanderungen (zum Beispiel am Sedan-Tag, am Tag der Völkerschlacht - Begehung des Schlachtfeldes im Süden Leipzigs) an „ihre“ Schule zu binden. Sein Ziel waren sittlich gefestigte junge Leute mit kaufmännischem Ehrgefühl. Seine „patriotische“ Gesinnung führte dennoch nicht zu nationalistischen Verzerrungen und ideologischem Dogmatismus. Sein Stellvertreter war der Prof. Dr. Abraham Adler. In seiner Rede zur Verabschiedung Adlers im Jahre 1904 betonte Raydt, seine Zusammenarbeit mit Adler sei ein Beweis dafür, dass ein überzeugter Israelit mit einem Christen in vollster Harmonie an der Erziehung der Jugend erfolgreich zusammenarbeiten könne - ein typisches Beispiel für den an der ÖHLA herrschenden liberalen Geist.
Unter Raydt wurde 1906 das 75jährige Bestehen der Schule mit einem Festakt und einem Schulfest im Krystall-Palast gefeiert. Die „dankbaren Schüler“ widmeten diesem Ereignis eine Marmortafel, die sich heute im Haupttreppenhaus der Volkshochschule befindet.
Am folgenreichsten waren Raydts Aktivitäten im Zusammenhang mit der Gründung der ersten deutschen Handelshochschule. Dass die Zeit für die Schaffung von Handelshochschulen reif war, ergab sich im Wesentlichen aus der gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark zunehmenden Industrialisierung, die eine vertiefte Behandlung auch der kaufmännischen und finanziellen Fragen der Betriebe sowie deren Einordnung in die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge erforderte. Durch die wachsende Zahl und Größe der kaufmännischen Unternehmungen entstand ein zunehmendes Bedürfnis der Wirtschaft nach einer intensiven Hochschulausbildung tüchtiger Fachleute für die Besetzung der leitenden Stellungen.
Es war kein Zufall, dass Leipzig wieder einmal die Vorreiterrolle übernahm. Durch ihre Messen stand die Stadt seit Jahrhunderten an vorderster Stelle der europäischen Wirtschafts- und Handelsentwicklung. Die Leipziger und die sächsische Wirtschaft waren stark exportorientiert. Dies begünstigte und erforderte eine über den Alltag hinausreichende Urteilsfähigkeit und eine Betrachtungsweise der wirtschaftlichen Prozesse in weltweiten Dimensionen.
Die Initiative zur Gründung der Handelshochschule ging von Prof. Raydt, vom Präsidenten der Handelskammer und vom Rektor der Universität aus. Eine Denkschrift fand die Zustimmung der Staatsregierung und der Stadt Leipzig. Die Handelshochschule wurde am 25. April 1898 in der Aula der Universität feierlich gegründet. Raydt war mit der Amtsbezeichnung „Studiendirektor“ praktisch der erste Rektor der Hochschule.
Ökonomische Grundlagen waren die finanzielle Garantie der Handelskammer Leipzig und jährliche Zuschüsse des Staates und der Stadt. Im Senat der Handelshochschule waren außer Raydt noch drei weitere Professoren der ÖHLA vertreten. Die Hochschule verfügte in den ersten Jahren weder über ein Gebäude noch über eigene Lehrkräfte. Der Lehrbetrieb fand in der ÖHLA bzw. an der Universität statt. Beide Institutionen stellten auch die Lehrkräfte. Ohne die ÖHLA und die Universität wären die Gründung und die günstige Entwicklung der Handelshochschule nicht möglich gewesen.
Durch umfangreiche Hospitationen an der ÖHLA wurde die Heranbildung von Handelslehrern sehr gefördert. Raydt gewährte Lehrern der ÖHLA längere Urlaube, damit sie ihre Promotionen abschließen konnten. So gingen aus der ÖHLA eine ganze Reihe von Professoren an der Handelshochschule und an verschiedenen deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen hervor. Bis nach dem 2. Weltkrieg hielt eine große Anzahl von Lehrkräften der ÖHLA ständig Vorlesungen an der Handelshochschule. Besonders die Vertreter der Fremdsprachen an der ÖHLA garantierten auch an der Hochschule eine hochqualifizierte Ausbildung. Die Kooperation sorgte aber gleichzeitig an der ÖHLA für eine hohe Qualität der Ausbildung. Welche Handelslehranstalt konnte sich schon rühmen, über Hochschulprofessoren als Lehrkräfte zu verfügen?